Rechtsprechung: 1 BvR 1691/13 - dejure.org (2024)

Hartz IV - Regelleistungen nach SGB II ("Hartz IV-Gesetz") nicht verfassungsgemäß

Auszug aus BVerfG, 23.07.2014 - 1 BvL 10/12

Die Leistungen sollen das physische und soziokulturelle Existenzminimum sichern (§ 20 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB II; vgl. BVerfGE 125, 175 ).

Mit den angegriffenen Regelungen hat der Gesetzgeber die Bemessung der Regelbedarfe nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 (BVerfGE 125, 175) neu konzipiert.

Dem Gesetzgeber steht ein Gestaltungsspielraum zu (vgl. BVerfGE 125, 175 ; 132, 134 ).

a) Der verfassungsrechtlich garantierte Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nur auf die unbedingt erforderlichen Mittel zur Sicherung sowohl der physischen Existenz als auch zur Sicherung eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben (vgl. BVerfGE 125, 175 ; 132, 134 ).

Entscheidend ist, dass der Gesetzgeber seine Entscheidung an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichtet (vgl. BVerfGE 125, 175 ; 132, 134 ) und die Leistungen zur Konkretisierung des grundrechtlich fundierten Anspruchs tragfähig begründet werden können (vgl. BVerfGE 132, 134 unter Verweis auf BVerfGE 125, 175 ).

Es kommt dem Gesetzgeber zu, die Methode zur Ermittlung der Bedarfe und zur Berechnung der Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz im Rahmen der Tauglichkeit und Sachgerechtigkeit selbst auszuwählen (vgl. BVerfGE 125, 175 ).

Werden hinsichtlich bestimmter Personengruppen unterschiedliche Methoden zugrunde gelegt, muss dies sachlich zu rechtfertigen sein (vgl. BVerfGE 125, 175 ).

cc) Die Ergebnisse eines sachgerechten Verfahrens zur Bestimmung grundrechtlich garantierter Ansprüche sind fortwährend zu überprüfen und weiter zu entwickeln (vgl. BVerfGE 125, 175 ).

Das Grundgesetz selbst gibt keinen exakt bezifferten Anspruch vor (vgl. BVerfGE 125, 175 ; 132, 134 ).

a) Da das Grundgesetz selbst keine exakte Bezifferung des Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen vorgibt, beschränkt sich die materielle Kontrolle der Höhe von Sozialleistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz darauf, ob die Leistungen evident unzureichend sind (BVerfGE 125, 175 ; 132, 134 ).

Lassen sich diese nachvollziehbar und sachlich differenziert tragfähig begründen, stehen sie mit Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang (vgl. BVerfGE 125, 175 ; 132, 134 ; oben C I 1 b).

Auch ein politisch ausgehandelter Kompromiss darf nicht zu sachlich nicht begründbaren Ergebnissen führen, wobei schlicht gegriffene Zahlen ebenso wie Schätzungen ins Blaue hinein den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügen (vgl. BVerfGE 125, 175 ; 132, 134 ).

Die Berechnung des Existenzminimums anhand eines Warenkorbes notwendiger Güter und Dienstleistungen mit anschließender Ermittlung und Bewertung der dafür zu entrichtenden Preise ist in gleicher Weise wie der Einsatz einer Verbrauchsstatistik für die Berechnung der Leistungshöhe zulässig (vgl. BVerfGE 125, 175 ).

Die Leistungen müssen entweder insgesamt so bemessen sein, dass entstehende Unterdeckungen intern ausgeglichen werden können (vgl. BVerfGE 125, 175 ), oder dass Mittel zur Deckung unterschiedlicher Bedarfe eigenverantwortlich angespart und die Bedarfe so gedeckt werden (vgl. BVerfGE 125, 175 ), oder es muss ein Anspruch auf den anderweitigen Ausgleich solcher Unterdeckungen bestehen.

cc) Der Gesetzgeber kommt seiner Pflicht zur Aktualisierung von Leistungsbeträgen zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach, wenn er die Entwicklung der tatsächlichen Lebenshaltungskosten zur Deckung des existenznotwendigen Bedarfs durch regelmäßige Neuberechnungen und Fortschreibungen berücksichtigt (vgl. BVerfGE 125, 175 ; 132, 134 ).

Der Gesetzgeber hat die relevanten Bedarfsarten berücksichtigt, die für einzelne Bedarfspositionen aufzuwendenden Kosten mit einer von ihm gewählten, im Grundsatz tauglichen und im Einzelfall mit hinreichender sachlicher Begründung angepassten Methode sachgerecht, also im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt und auf dieser Grundlage die Höhe des Gesamtbedarfs bestimmt (vgl. BVerfGE 125, 175 ; 132, 134 ; oben C I 2 b).

Da sich dies auf der Grundlage belastbarer Zahlen nachvollziehen und nach Maßgabe vertretbarer Wertungen verfassungsrechtlich rechtfertigen lässt, in sich nicht unsachlich ist und nicht auf schlicht gegriffenen Zahlen oder Schätzungen ins Blaue hinein beruht (vgl. BVerfGE 125, 175 ; 132, 134 ; oben C I 2 b aa), ist ein solches Ergebnis von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.

c) Die in § 20 Abs. 5 Satz 2 SGB II in Verbindung mit § 28 SGB XII und dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz vorgegebene Orientierung an der EVS ist als statistisches Berechnungsmodell ein im Grundsatz geeignetes Verfahren, die zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen Leistungen realitätsgerecht zu bemessen (vgl. BVerfGE 125, 175 ).

Dies ist Teil der Ausrichtung auf den Entwicklungsstand des Gemeinwesens und die bestehenden Lebensbedingungen (vgl. BVerfGE 125, 175 ); es stellt einen Bezug zu den Erwerbstätigen her (vgl. BVerfGE 125, 175 ; dazu BTDrucks 17/3404, S. 121 f.), ermöglicht aber für sich genommen keine Unterschreitung der verfassungsrechtlich gebotenen Mindesthöhe der existenzsichernden Leistungen.

d) Die Ermittlung der Regelbedarfe stützt sich im Ausgangspunkt mit der EVS auf geeignete empirische Daten (vgl. BVerfGE 125, 175 ).

Er darf davon ausgehen, dass in höheren Einkommensgruppen Ausgaben in wachsendem Umfang über das zur Deckung des Existenzminimums Notwendige hinaus getätigt werden (vgl. BVerfGE 125, 175 ).

Die Referenzgruppe ist auch so breit gefasst, dass statistisch zuverlässige Daten erhoben werden können (vgl. BVerfGE 125, 175 ).

Das Bundesverfassungsgericht hat zu dieser Frage der Bedarfsgemeinschaften bereits entschieden, dass der Bedarf einer weiteren erwachsenen Person in einer Höhe von 80 % von dem statistisch ermittelten Bedarf der Alleinstehenden abgeleitet werden darf (vgl. BVerfGE 125, 175 ), da die Erhebung nach Haushalten geeignet ist, den tatsächlichen Bedarf auch für solche Lebenssituationen zu ermitteln.

ee) Der Gesetzgeber hat nach § 3 Abs. 1 RBEG diejenigen Haushalte aus der Berechnung herausgenommen, die in der Ermittlung existenzsichernder Bedarfe zu Zirkelschlüssen führen würden (vgl. BVerfGE 125, 175 ), weil sie ihrerseits fürsorgebedürftig sind.

(1) Aus der Berechnung der Höhe der Leistungen für den Regelbedarf sind Haushalte, soweit erhebungstechnisch möglich, ausgenommen, deren Nettoeinkommen nicht das Niveau der Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch einschließlich der Leistungen für Unterkunft und Heizung überschreitet (vgl. BVerfGE 125, 175 ).

(3) Die Berechnung der Höhe der Leistungen für den Regelbedarf stößt nicht auf verfassungsrechtliche Bedenken, weil der Gesetzgeber in der Referenzgruppe der Einpersonenhaushalte auch solche Personen berücksichtigt hat, die trotz Anspruchs auf Sozialleistungen solche nicht bezogen haben und ihre Ausgaben also aus anderen, möglicherweise geringeren Mitteln bestreiten mussten (vgl. BVerfGE 125, 175 ).

Der Gesetzgeber ist seiner Pflicht zur entsprechenden Fortentwicklung der Bedarfsermittlung aus § 10 Abs. 2 Nr. 1 RBEG (vgl. BVerfGE 125, 175 ) bei der Auswertung der EVS 2008 nachgekommen.

Auch eine sachgerechte Schätzung ist jedoch mit Unsicherheiten behaftet, weshalb der Gesetzgeber nicht gezwungen ist, zur Bestimmung der Höhe von Sozialleistungen auf eine bloß näherungsweise Berechnung abzustellen (vgl. BVerfGE 125, 175 ).

Im Unterschied zur Regelbedarfsbestimmung nach der Sonderauswertung der EVS 2003 wurde auch kein bloßer Abschlag für Heizstrom "ins Blaue hinein" (BVerfGE 125, 175 ) vorgenommen.

Insbesondere ist die wertende Entscheidung des Gesetzgebers, ein Kraftfahrzeug sei im Grundsicherungsrecht nicht als existenznotwendig zu berücksichtigen, vertretbar; allerdings sind die ohne Kraftfahrzeug zwangsläufig steigenden Aufwendungen der Hilfebedürftigen für den öffentlichen Personennahverkehr zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 125, 175 ).

bb) Der Gesetzgeber darf grundsätzlich darauf verweisen, dass punktuelle Unterdeckungen intern ausgeglichen werden (vgl. BVerfGE 125, 175 ), wenn ein im Regelbedarf nicht berücksichtigter Bedarf nur vorübergehend anfällt oder ein Bedarf deutlich kostenträchtiger ist als der statistische Durchschnittswert, der zu seiner Deckung berücksichtigt worden ist.

Auch die in der Pauschale für den Regelbedarf enthaltenen Leistungen für soziokulturelle Bedarfe sind keine frei verfügbare Ausgleichsmasse, da diese Bedarfe ebenfalls existenzsichernd zu decken sind (vgl. BVerfGE 125, 175 ; 132, 134 ; oben C I 1 a).

Desgleichen kann eine Unterdeckung entstehen, wenn Gesundheitsleistungen wie Sehhilfen weder im Rahmen des Regelbedarfs gedeckt werden können noch anderweitig gesichert sind (vgl. BVerfGE 125, 175 ).

Die bereits zuvor geltende Unterscheidung der Altersgruppen musste aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht zwingend erneut verändert werden, da der Regelbedarf nun nicht mehr eine freihändige Setzung für "kleine Erwachsene" ist (vgl. BVerfGE 125, 175 ).

bb) Die Bestimmung existenzsichernder Bedarfe von Kindern und Jugendlichen durch Verteilungsschlüssel ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden (vgl. BVerfGE 125, 175 ).

Der notwendige Lebensunterhalt bei Kindern umfasst auch den besonderen, namentlich den durch ihre Entwicklung und ihr Heranwachsen entstehenden Bedarf (BVerfGE 125, 175 ).

Sie lässt sich tragfähig begründen, denn der Gesetzgeber hat Bedarfe für die gesellschaftliche, politische und kulturelle Teilhabe (vgl. BVerfGE 125, 175 ; 132, 134 ) zum 1. Januar 2011 gesondert über das sogenannte "Bildungspaket" durch § 28 SGB II gedeckt, worauf § 19 Abs. 2 SGB II verweist (BTDrucks 17/3404, S. 72).

Die Verfassung verbietet dies nicht (vgl. BVerfGE 125, 175 ); sie sind damit weiterhin Teil des existenzsichernden Bedarfs, den der Gesetzgeber zu decken hat (§ 19 Abs. 1 Satz 1 SGB II) und werden darüber hinaus nach § 28 und § 29 SGB II auch gewährt, wenn kein Anspruch auf Leistungen für den Regelbedarf besteht.

(d) Es liegt auch im Ausgestaltungsspielraum des Gesetzgebers, Leistungen für Bildung und Teilhabe nach § 29 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 SGB II nicht unmittelbar durch eigene Sachleistungen, sondern in Form von Gutscheinen über die Kosten für vorhandene kommunale Angebote zu erbringen (vgl. BVerfGE 125, 175 ; 132, 134 ).

Die Vorgaben zur Fortschreibung der Regelbedarfsstufen in den Jahren, in denen keine Neuermittlung nach § 28 SGB XII erfolgt, weichen - im Unterschied zur vormaligen Regelung (vgl. BVerfGE 125, 175 ) - nicht in unvertretbarer Weise von den Strukturprinzipien der gewählten Ermittlungsmethode ab.

Der Gesetzgeber kommt seiner Pflicht, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wie auf Preissteigerungen oder auf die Erhöhung von Verbrauchsteuern zu reagieren, um sicherzustellen, dass der aktuelle Bedarf gedeckt ist (vgl. BVerfGE 125, 175 ; 132, 134 ), durch die angegriffenen Regelungen im Grundsatz nach.

a) Eine Hochrechnung anhand der Preisentwicklung in den Ausgabepositionen, aus denen sich der regelbedarfsrelevante Verbrauch zusammensetzt, ist mit dem Grundgesetz ebenso vereinbar (vgl. BVerfGE 125, 175 ) wie die Orientierung an einem gemischten Index, der neben der Preisentwicklung auch die Entwicklung der Löhne und Gehälter berücksichtigt.

Die geringere Berücksichtigung der Lohnentwicklung soll Entwicklungsstand und Lebensbedingungen berücksichtigen (vgl. BVerfGE 125, 175 ) und in gewissem Maße die Wohlfahrtsentwicklung der Gesellschaft nachzeichnen (vgl. BVerfGE 125, 175 ; Falterbaum, in: Hauck/Noftz, SGB XII, Stand: Dezember 2011, K § 28a Rn.19).

Verfassungsrechtlich ist allein entscheidend, dass für jede individuelle hilfebedürftige Person das Existenzminimum nach Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG ausreichend erfasst wird; eines Rückgriffs auf weitere Grundrechte bedarf es insofern im Ausgangspunkt nicht (vgl. BVerfGE 125, 175 ).

Die Entscheidung über die Ermittlung und die Höhe der Leistungen für den Regelbedarf betrifft über die ausdrücklich angegriffenen Normen hinaus auch deren weitere Fassungen und Nachfolgeregelungen (vgl. BVerfGE 125, 175 ).

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